Vorwort:
Der Autor Dieter Lühmann, geb.1952, schrieb das Buch in dem Wunsch nach einer liebevollen, toleranten Gemeinschaft, die jedem Menschen die Möglichkeit läßt, sich und seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Er widmete sich in den letzten Jahren vor seinem plötzlichen Tod im Januar 2001 gemeinschaftlich ausgerichteten Ökodorfprojekten, deren Ziel es sein sollte, jung und alt - egal welcher Konfession oder Nationalität - zu verbinden und in ein spirituelles Wachstum zu bringen. Bei aller individuellen Gewordenheit haben wir Menschen im Kern zumeist recht ähnliche Grundbedürfnisse: In einem gesunden Körper beheimatet, wollen wir ausreichend und gut atmen, schlafen, Essen und Trinken, wollen in befriedigender Sexualität mit einem geliebten Menschen Vertrautheit und Sicherheit, Lebensfreude und Erfahrung sammeln, unseren Kindern einen guten Ort zum Aufwachsen bieten, mit unseren Händen, Herzen und dem Verstand unseren Lebensunterhalt erwirtschaften und die Welt schöpferisch gestalten, dabei von einer lebendigen Gemeinschaft getragen sein, der wir uns zugehörig fühlen. Wir wollen wachsen und lernen, die Welt immer besser zu verstehen und uns selber auch. Wir wollen uns, in unserer je eigenen Heldenreise, mit dem Schatten in uns, um uns herum, erfolgreich auseinandersetzen. Mit zunehmendem Alter wird uns die Hinwendung zu den großen universellen Kräften des Universums immer wichtiger. (aus der Homepage des Autors)
Um diese Energien des Universums geht es letztendlich auch in dem Roman, den ich im Sinne des Autors fertiggestellt habe. Diese Geschichte versteht sich nicht nur als spannende Lektüre oder fiktive Erzählung, sondern auch als Widerspiegelung unserer Gedanken und Gefühle und als Aufruf zu mehr Menschlichkeit und Wärme. Er zeigt die Brücken, die gebaut werden können, um die tägliche Isolation aufzubrechen und andere Menschen in aller Toleranz anzuregen, über sich selbst und die Erkenntnisse im Leben nachzudenken. Michelle Petite

1. Kapitel: Der Aufschrei (Auszug)
Wenn Melissa auch nur ansatzweise geahnt hätte, was an diesem Dienstag mit ihr geschehen würde, dann wäre sie noch einmal ganz tief unter ihre Bettdecke geschlüpft, um Kraft zu schöpfen. So aber stoppte sie kurz entschlossen den nervenden Wecker und setzte sich aufrecht hin, dabei ihre drei Kopfkissen zu einer Rückenlehne formend. Der schwarze Schmetterling... ; er kam mit einer spiralförmigen Bewegung durch das offene Fenster geflogen. Angestrengt versuchte sie, die Traumfetzen wieder zusammenzusetzen, sich zu erinnern, was in dem Raum mit dem geöffneten Fenster geschah. Da waren ein Mann und eine Frau in dem Zimmer gewesen. War der Mann eine Bedrohung? Ja, der Schmetterling hatte ihn einen Moment lang abgelenkt. Gab es überhaupt völlig schwarze Schmetterlinge? Je angestrengter Melissa versuchte, sich auf das Geschehen in diesem Zimmer zu konzentrieren, desto schneller zerfiel der Traumrest. Wenn es wichtig war, würde er von alleine zu ihr zurückkommen, der schwarze Schmetterling und der Traumrest.
Mit ihrer rechten Hand tastete Melissa nach der Fernbedienung für die Kaffeemaschine, setzte mit dem Infrarotsignal das Gerät in ihrer Miniküche in Gang. Ein praktisches Geschenk von Jochen, der wußte wie gerne Melissa morgens zuallererst einen Kaffee im Bett trank. Er hatte es aus einem Sonderangebot vom Lidl - Markt mitgebracht. Drei Tage später hatten sie sich gestritten und er war nie wieder aufgetaucht. Nur diese raffinierte Fernbedienung war als Erinnerung an Jochen in ihrem Leben zurückgeblieben. Und während sie dem sprotzenden Geräusch des erhitzten Wassers zuhörte, wie es auf das gestern abend vorsorgend eingefüllte Kaffeepulver tropfte und den aromatischen Duft in ihrem Apartment verbreitete, schenkte sie Jochen noch einmal drei Minuten Erinnerungsarbeit. Eigentlich ein feiner Kerl, nur daß er für alles sofort eine Lösung hatte, so wie für Melissas Unlust morgens aufzustehen und die Kaffeemaschine anzustellen. Und er war ungeduldig mit ihr gewesen, hatte ihr keinen Raum gegeben, ihre eigenen Lösungen zu suchen. Für ihn durfte es nie offene Fragen geben. Physikstudent, reiche Eltern in Amerika, im Internat aufgewachsen, Einzelkind, egomanisch bis zum abwinken. Dabei schrecklich charmant. Mit einem Aufstöhnen holte Melissa sich ihre Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ins Bett. Wenn sie noch drei Wochen mit Jochen zusammengeblieben wäre, hätte er sicherlich ein Förderband konstruiert, das den Kaffee zum Bett brächte. Für Jochen gab es keine Probleme. Wohlig erinnerte sie sich, wie er am Tage ihrer Trennung mit zwei Flugtickets nach Amerika zu ihr kam. Seine Eltern hätten ein Recht darauf, sie kennenzulernen, bevor er sie heiraten würde. Sie kannten sich zu diesem Zeitpunkt genau drei Monate und hatten dreimal zusammen geschlafen. Das war Jochens Art einen Heiratsantrag zu machen. Sie hatte ihn ausgelacht. Er kam einfach aus einer anderen Welt, in der es keine schwarzen Schmetterlinge gab. Schade eigentlich; er war charmant, gut aussehend, erfolgreich, intelligent und Erbe eines beeindruckenden mittelständischen Vermögens. Aber er konnte nicht damit umgehen, daß seine Partnerin ihren eigenen Kopf und ihre eigene Geschichte hatte...und eine ganze Latte von Problemen, die nicht mit einer Fernbedienung zu lösen waren.
Melissa genoß den heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Eigentlich wollte sie nur eine nachmittägliche Meditation machen, allerhöchstens einen kleinen verspäteten Mittagsschlaf. Aber sie war fest eingeschlafen. Gottseidank hatte sie ihren Wecker gestellt. Der Kaffee war eigentlich schon für morgen vorbereitet gewesen. Aber wenn sie mittags einschlief, war sie immer wie gerädert, nein eher wie erstarrt nach dem Aufwachen. Eine Freundin von ihr hatte einmal erzählt, ihr wäre es in der Schwangerschaft genauso gegangen. Stundenlang habe sie so dagelegen und zugeschaut, wie das Baby in ihrem Bauch wuchs. Melissa war nicht schwanger; sie befürchtete eher, in eine Depression zu rutschen, wenn sie diese Erstarrung versuchte zu analysieren. Drei Tage nach der Trennung von Jochen hatte sie ihren Job in der kleinen Werbeagentur verloren. Ihr Chef fand sie zu wenig kundenorientiert. Tatsächlich ....
Kopfschüttelnd sprang sie aus dem Bett, stellte die halbleere Tasse auf den Nachtschrank und begab sich in Bad. Augenränder verrieten ihr, daß sie wohl letzte Nacht wieder zu wenig geschlafen hatte. Vielleicht sollte sie einfach mal raus hier, Urlaub machen oder einfach alles hinschmeißen und neu anfangen. Natürlich vergaß sie den Gedanken schnell wieder. Ihr Leben schien ihr fest gefügt, zu fest gefügt.

Ein Wolkengebirge wie aus Blei gegossen ließ die Dämmerung über Frankfurt verfrüht hereinbrechen. Melissa beschleunigte ihre Schritte, soweit es der glitzernde Lackminirock mit seinem geflochtenen Ledergürtel zuließ - ihren Schirm hatte sie wieder mal wenige Tage nach seinem Kauf unbenutzt an unbekannter Stelle stehen gelassen. Nasse Haare konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Schon der Gedanke daran ließ sie erfrösteln. Das dumpfe Grollen hinter dem Lärm des verebbenden Feierabendverkehrs war für sie schwer zuzuordnen; Erschütterungswellen der U - Bahn von der Kaiserstraße oder Vorboten einer Gewitterfront? Ein heiseres Bellen vor ihr ließ sie aufblicken. Eine Gruppe von glatzköpfigen Jugendlichen lümmelte in einem Toreingang rum, einer von ihnen - lässig an der Hauswand lehnend - hielt den kläffenden Pitbullterrier an einer Gliederkette, deren Ende er provozierend um das Handgelenk schwang. Melissa wechselte wie absichtslos die Straßenseite - sie hatte genug Probleme. Hinter der Ecke zur Berliner Straße blieb sie überrascht stehen. Über der Häuserschlucht hatte die untergehende Sonne den Himmel tiefdunkelrot verfärbt. Dieses Abendrot unterhalb der schwarzen Wolkenwand erinnerte sie schlagartig an die Sonnenuntergänge im Taurusgebirge. Sie nahm sich einen Moment Zeit, setzte sich auf die oberste Stufe eines Treppeneinganges und zündete sich eine Zigarette an. Die geduckten Olivenbäume im Abendrot der untergehenden Sonne. Die Großmutter Aisha - ganz schwarz gekleidet, immer ernst, immer mit Achtsamkeit und Zeit für ihre sechsjährige Enkeltochter, die Geborgenheit, gehalten an ihrer Seite, die Musik der Hirten - Heimat. Melissa fühlte sich gewarnt. Schon lange registrierte sie die kleinen Hinweise des Alltages; Tagträume, Deja-vu - Erlebnisse, das Ziehen im Magen. Sie begann diese Zeichen ernster zu nehmen, den flüchtigen Eingebungen zu folgen, nicht immer - manchmal entschied sie sich auch bewußt dagegen, das aber immer erst nach einigem Zögern. Sie beobachtete die Abläufe, dachte über die Situationen nach: Wie ging es weiter, wenn sie dem Impuls folgte, was passierte, wenn sie ihrem Willen, Verstand und Intellekt den Vorrang gab? Manchmal hatte sie den Eindruck, einen Schutzengel zu haben; dann wieder kam es ihr eher so vor, als füge sich ein Mosaik zusammen, als wolle eine Kraft sie wegführen auf einen ganz anderen Lebensweg, dessen Ziel sie nicht einmal ahnte. An Aisha hatte sie lange nicht mehr gedacht und sie genoß die Verbindung zu ihrer Vergangenheit, zu Heimat und geordneten Zeiten der Kindheit. Aber sie wurde auch hellhörig, sehr klar, dünnhäutig - und atmete tief den Rauch der Zigarette ein.

Es wurde Zeit anzukommen. Sie betrat den mit kaltem Neonlicht beleuchteten Hauseingang der Nr.17 in der Berliner Straße, begrüßte Leon, der massig hinter seinem Tresen thronte und sie mit einem offenherzigen Grinsen empfing, das seine Goldkronen freilegte. Aus ihrer Handtasche holte sie die Tüte mit frischen Pinienkernen, die sie Leon immer aus dem Geschäft ihres Vaters mitbrachte. Er rauchte zuviel bei seinen langen Wachschichten und war für die kleine Abwechslung dankbar. Schon mehrfach hatte sie sich vorgenommen, Leon auf einen Kaffee einzuladen - sie wußte noch nicht einmal, was ihn in die Berliner Straße verschlagen hatte. Marie - Antoine von den Philippinen war auch schon da, räkelte sich auf ihrem Barhocker. Sie legte immer ein blütenweißes Frotteehandtuch unter - vielleicht weil ihre Schokoladenhaut so besonders gut zur Geltung kam, vielleicht auch, weil der weiße Stoff "Reinheit" und "Unschuld" ausstrahlte. Marie hatte das beste Zimmer, direkt im Erdgeschoß, wo die Freier sie schon von der Straße aus sehen konnten, wenn die Eingangstür geöffnet war. Marie arbeitete jeden Tag ohne Pause; sie wollte in zwei Jahren aufhören und ein Restaurant in ihrer Heimat aufmachen. Melissa arbeitete nur gelegentlich, teilte sich deshalb ein Zimmer mit Lucky aus Taiwan, denn es kostete 400 Euro im Monat. Lucky hatte heute ihren Sauna - und Massageabend; das war ihr heilig. Sie wechselte ein paar Worte mit Marie, erfuhr, daß es heute abend wieder ein Fußballspiel im Fernsehen gab. Fußballübertragungen galten als Freierfresser - fressen oder gefressen werden! Wo kam der Spruch eigentlich her?
Sie nahm den Treppenaufgang, um die Lage im Hause zu erkunden. Vereinzelte Männer in den Laufgängen, hauptsächlich Türken, die nur zum Spannen kamen, deren Monatslohn längst verausgabt war, wenige Deutsche, eher ältere - aber es war ja noch früh. Sie wollte, nein mußte heute mindestens 300 Euro Umsatz machen; in drei Tagen war die Rate fällig. Das war schwer; kaum zu schaffen an einem Fußballabend - was soll´s, es gab keine Alternative für sie. Im dritten Stock war sie die Einzige; alle anderen Türen noch geschlossen; nur der kalte Rauch der letzten Nacht, das schummrige rote Neonlicht und die eintönige Musikkonserve. Sie hatte vergessen, Leon zu bitten, die CD von den Gipsi Kings aufzulegen; das brachte ihr Umsatzvorteile, weil es Lust machte auf Orient und die Märchen von Tausend und einer Nacht, die ihr vertraut waren. Das schwer identifizierbare Grollen, die Skinheads und die Erinnerung an Aisha hatten sie wach, aber auch unruhig gemacht. Einen kurzen Moment dachte sie wieder an den Schmetterling vom Morgen.
Jeder Freier war im Grunde eine Herausforderung. Melissa hatte ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Arbeitsaufgabe; sie war anders als die anderen Frauen hier. Sie empfand selten Ekel vor den Männern, nie Haß. Sie konnte den menschlichen Kontakt auch nicht so abschneiden wie die meisten anderen hier, die den Job schon Jahre machten. Sie erfaßte jeden Mann in seiner Eigenart, seine Sehnsüchte, seine Gier nach Berührung, manchmal auch die Angst vor dem Weiblichen, am schwierigsten, die Lust zu demütigen, sich zu rächen für früher Zugefügtes. Alle brachten sie ihre schwierige Vergangenheit in punkto Frauen mit, suchten eine Lösung, wo es nur Illusionen gab, gingen leer und zumeist enttäuscht wieder weg. Aber sie war auch genauso wie die anderen Frauen; sie wollte das Geld dieser Männer und war bereit, dafür ihre Hände, ihren Samen, ihren Geruch, ihre verschraubten Gefühle und Macken zu ertragen. Weil sie aber nicht umhin kam, im Freier auch den Menschen zu sehen, mußte sie sich ganz anders schützen vor deren Kaputtheit, aufpassen, daß sie nicht zu Bodenlosem ermutigte, sich mißbrauchen ließ oder die Zeit vergaß oder sich selber in ihrem Mitgefühl zu tief verstrickte. Es gab Freier, mit denen ging das nicht ohne Gefahr; sie war die einzige im Hause, die auch Männer wegschickte, sich verweigerte, stolz und abweisend blieb, darauf achtete, auch zu wählen. Sie öffnete das Sicherheitsschloß und bereitete ihren Arbeitsplatz vor. Melissa hatte ihren eigenen Stil. Sie legte ein buntbedrucktes Seidentuch über die Nachttischlampe, entzündete eine Duftlampe mit ätherischem Sandelholzöl , sowie eine türkische Öllampe und hüllte den kleinen Raum mit dem großen Bett in ihre Musik. Melissa ging zum Fenster und sah, daß der tiefrote Horizont sich zu einem ganz schmalen Streifen verengt hatte, die bleierne Front hatte sich durchgesetzt, es würde bald regnen.

Tatsächlich gehörte das Grollen zu einer Gewitterfront, die sich in der Ferne bereits in einem Wetterleuchten entlud. Ihre Unruhe verstärkte sich, das Gewitter näherte sich der Innenstadt. Sie ließ das Fenster trotzdem offen, ein einsetzender Wind bauschte die billigen Vorhänge auf. Deswegen nahm sie die Öllampe vom Fenstertisch weg und postierte sie auf dem Nachttisch - dachte lächelnd an die wiederholten Mahnungen von Leon, diese Öllampe bloß mit nach Hause zu nehmen. Brandschutz. Kein offenes Feuer im Bordell. Nur weil er sie mochte, schritt er nicht ein. Er hatte sie noch nie angelangt und sie auch noch nie gezwungen, mit ihm zu schlafen - bei den anderen war er nicht so zurückhaltend. Es beruhigte sie ein wenig, daß Leon heute Dienst hatte im Foyer. Sie richtete sich auf und sog ein letztes Mal die kühler werdende Abendluft am Fenster ein um dann in das kleine Bad zu gehen und ihr Parfum aufzulegen. Sie benutzte immer nur ganz wenig davon und plazierte es auf ihren rasierten Achselhöhlen. Manche Männer schätzten es nicht, wenn sie zu Hause die unbekannten Düfte vor ihren Frauen erklären mußten. Vom Flur her hörte sie ein leises Geräusch, vorsichtige Schritte. Sie beeilte sich, weil sie es nicht mochte, wenn die Freier neugierig in ihr Zimmer lugten, sie im Bad begutachteten; es war ihr wichtig, sie vor ihrem kleinen Reich zu empfangen, um den Kontakt mitgestalten zu können, ihre Wahlfreiheit nicht zu verspielen. Zu spät, ein Mann hatte das Zimmer betreten. Sie hörte, wie er die Tür von innen sehr leise schloß. Hastig und mit einer fahrigen Bewegung versuchte sie, das Parfumflakon zu schließen. Nervosität in den Fingern, das Fläschchen entglitt ihr und fiel scheppernd in das Porzellanbecken. Der intensive Geruch ihres türkischen Parfums vermengte sich mit dem Duft des erwärmten Sandelholzöles....
Der Mann kam nicht in das Bad, offensichtlich wartete er auf sie im Zimmer, so als ob er ganz genau wüßte, wer es bewohnte. Sie hatte wenige Stammkunden, weil sie unregelmäßig arbeitete. Melissa ahnte jetzt, daß sie ihren Besucher kennen würde, und Angst stieg in ihr auf, wie immer vom Solarplexus ausgehend, ihren Magen sofort zusammenziehend wie ein Tintenfisch bei der Berührung durch den Feind. Melissa vergaß in ihrer Panik die sich langsam entleerende Parfumflasche, schleuderte herum, erkannte mit einem Blick, daß es heute passieren würde. Das Donnergrollen, die Skinheads, der schwarze Schmetterling – alles fügte sich zusammen. Rückwärts an das Waschbecken gestützt, umklammerte sie mit blutleer werdenden Fingern den Beckenrand. Es hatte irgendwann so kommen müssen. Er hatte es also herausbekommen, daß sie hier arbeitete, als Nutte – nein, er wußte es bestimmt schon lange, hatte gewartet bis heute. Draußen entluden sich die ersten Blitze, unmittelbar danach durchbrach der Donner die Wolken. Jassif hatte sich an der Wand abgestützt, mit einem Fuß die Tapete berührend, wie um sich nach vorne auf sie schleudern zu können, aber ganz entspannt in seinem eleganten Anzug, der durch den geöffneten, dunklen Mantel zu erkennen war. Er würde sich nie auf sie stürzen, das hatte er nicht nötig. Längst hatte er sie in seiner Gewalt, seit Jahren schon. Was wollte er hier?
Sie musterte – nach der ersten Panik um Fassung ringend - sein Gesicht, um seine Absichten dort erkennen zu können; der schwarze Schnurrbart, ganz dunkle, buschige Augenbrauen, die Augen fast melancholisch. Ihre Schicksale waren verflochten, vielleicht schon vor ihrer Geburt; diesem Mann war sie nicht gewachsen, sie hatte mehr als Angst vor ihm; er war ein Vollstrecker. „Was willst du hier im Bordell von mir?“ Melissa hörte erleichtert, daß ihre Panik noch nicht in der Kehle angekommen war – ihre Stimme gewann Festigkeit. Zeitgleich – während sie die Frage stellte – stieg die Antwort in ihr hoch. Natürlich würde er mit ihr schlafen. Dazu kamen Männer in ein Bordell. Aber das war es nicht alleine, was er wollte. Sie sah in seine Augen, sah den tiefen Ernst in seinem Gesicht, keine Gier, Geilheit, Verlegenheit wie bei den gewöhnlichen Freiern. „Zieh dich aus, Melissa, und leg dich auf das Bett!“ – seine Stimme tief und dunkel, gewohnt, kurze, knappe Anweisungen zu geben, die nicht in Frage gestellt wurden. Sie spürte den Sog in dieser Stimme, er war gekommen, um etwas zu vollstrecken, nicht um irgendeine persönliche Gier zu befriedigen. Er hatte sie noch nie berührt, obwohl er mehrfach Gelegenheit dazu gehabthätte. Heute würde er diese Grenze überschreiten. Sie würde gezeichnet werden. Ihre Panik entlud sich, wie draußen das Unwetter, in Phantasien, kurzen Bildern in ihrem Kopf. Er würde sie zeichnen, ein Feuerzeichen in sie einbrennen wie einem neuen Rind in der Herde. In sein Schicksal würde er sie einbauen, sie hatte keine Ahnung wofür und wie – aber sie wußte, daß sie ausgelöscht wäre, verbrannt, in ihrem Lebensweg zerstört, so wie er das Leben ihres Vaters zerstört hatte, vielleicht sogar der Mutter.

Einen kurzen Augenblick sah sie ein zerronnenes Bild der Mutter als junge Tänzerin in einem weißen Gewand auf einer Bühne verloren tanzend. Mutter, oh Mutter, hilf mir in diesem Moment, mein eigenes Leben zu verteidigen gegen diesen Mann! Ja, dieser Mann war die Verkörperung des Bösen in ihrem Leben, und heute mußte sie sich ihm stellen. Der Gedanke an ihre Mutter löste ihre Erstarrung. Sie mußte irgendwie aus diesem Raum entkommen. Aber er stand direkt an der Wand neben der Tür und sie war über drei Meter entfernt. Die Alarmanlage, schoß es ihr durch den Kopf, Der Auslöser war neben dem Bett, versteckt unter dem Kopfkissen, ungefähr zwei Meter entfernt. Wenn sie sich auf das Bett werfen würde, könnte sie den Alarmknopf drücken, und Leon würde unten im Foyer ihre Zimmernummer aufleuchten sehen und einen zahlungsunwilligen oder gewalttätigen Freier vermuten – er könnte dann in weniger als zwei Minuten da sein. Und dann? Jassif würde ihn töten, sofort und ohne einen Moment zu zögern. Leon hätte gar keine Chance. Er würde nicht mit einem Profikiller rechnen, einem Mann, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr systematisch gelernt hatte, als kämpfender Kurde zu töten – das war eine andere Qualität des Überlebenskampfes als die hausbackenen Rangeleien in Frankfurter Loddelkreisen. Leon hätte keine Chance und sie durfte ihn nicht in ihr Schicksal verstricken. „Melissa, dies ist ein wichtiger Tag für uns beide. Nimm es an, was geschehen muß. Es ist bestimmt worden für uns und muß nun vollzogen werden. Es steht auch über meinem Willen. Meine Leute sind unten, ich möchte hier kein Aufsehen erregen. Zieh dich bitte aus!“ Er war ihrem unbewußten Blick zur Alarmanlage gefolgt und hatte die Situation sofort im Griff, war offensichtlich gut vorbereitet. Jassif war immer in allem methodisch und systematisch vorgegangen. Um ihr zu zeigen, wie sicher er sich seiner Sache war, gab er die Tür frei, ging zu dem niedrigen schwarzen Ledersessel neben dem Fenster und zog seinen Mantel aus.
„Ich will kein gemeinsames Schicksal mit dir. Was willst du also vollziehen?“ Jassif antwortete nicht und ein entnervendes Schweigen breitete sich im Raume aus – er hatte den Casettenrecorder ausgestellt und begann, sich auszuziehen. Er wollte also doch mit ihr schlafen. War es wirklich nur das? Es paßte nicht in ihr Bild von ihm. Plötzlich siedete eine Gewissheit in ihr hoch und breitete sich mit Windeseile in ihrem ganzen Körper aus. Sie war empfängnisbereit! Viele Male hatte sie sich vorgenommen, an diesen Tagen nicht zu arbeiten, aus Respekt vor ihrer Weiblichkeit, aus Vorsicht vor gewalttätigen Freiern, die ohne Präservativ Geschlechtsverkehr erzwingen wollten. Sie hatte es zu leicht genommen und schlagartig wurde ihr klar: Jassif würde sie schwängern, sie würde ein Kind austragen müssen von diesem Mann, der das Leben ihres Vaters zerstört hatte. Sie hatte keine Chance mehr. Alles war klar, alles ging seinen Weg, deswegen seine Worte vom Vollziehen. Eine lähmende Schwäche breitete sich in ihr aus, jetzt, wo sie verstanden hatte, was er vorhatte. Sie spürte Wellen von Übelkeit, die ihr Magen in alle Himmelsrichtungen aussandte, ihre Beine ganz weich machten. Bloß jetzt nicht ohnmächtig werden!
Als sie wieder zu sich kam, registrierte sie, daß sie auf dem Bett lag, entkleidet war. Er hatte sie ausgezogen, ihre Kleider sehr ordentlich auf den Sessel gelegt, sogar zusammengefaltet. Jassif war ebenfalls ausgezogen, sein kräftiger, gedrungener Körper dunkel behaart. Er kauerte neben ihrem Bett, schien wie in eine Meditation versunken. Als er sah, daß sie wieder zu sich kam, wandte er sich ihr sofort zu. Er hatte also auf sie gewartet, er wollte, daß sie den Vollzug bewußt erlebte, ihre Entwürdigung als eigenständiger Mensch bei klarem Bewußtsein registrierte, als Zeugin, als Opfer, als Teilnehmerin einer Schicksalsgemeinschaft. Resignation breitete sich in ihr aus. Sie ließ sich auf sein System gedanklich ein, begann sich vorzustellen, wie ein Kind, von diesem Monstrum gezeugt, aussehen würde: natürlich ein Junge mit dunklen Augenbrauen. Jassif würde sie vielleicht in einem Palast in Beirut unterbringen, möglicherweise ihr sogar nach der Entbindung in einem Anflug von Großzügigkeit oder Berechnung die Wahl zur Freiheit geben. Er hätte ja das Kind und eine untrennbare Verbindung zu ihr und ihrer Familie. Sie sah auf einmal Frauen, die alles dafür gegeben hätten, Jassif ein Kind schenken zu dürfen, in seine Dynastie einzutauchen, bedeutsam zu werden, teilzuhaben an seiner Macht und seinem Reichtum. Und wenn genau dies ihre Bestimmung wäre? Gab es nicht Schlimmeres? Hatte dieser Mann nicht sowieso schon ihren Lebensweg geprägt von Kindheit an? Wenn auch immer als Gegner, als Vernichter – aber in solch absoluter Grausamkeit, daß er längst zu ihrer Familie gehörte. Jetzt sah Melissa ihren Vater vor sich, sein schmerzverzerrtes Gesicht, wenn er die Nachricht von seinem Enkel erfahren würde. Das würde ihn endgültig zerbrechen. Er war ein Heiliger, er würde Jassif der Blutrache unterwerfen müssen, nach den uralten Gesetzen ihres Volkes, er würde ihn töten müssen. Aber der Vater konnte diesen Weg nicht mehr gehen; er hatte diese Welt von Kampf und Rache endgültig, unwiderruflich hinter sich gelassen. Er hätte nicht mehr zurück gehen können, aber er hätte mit diesem Schicksal auch seinen Weg nicht mehr weitergehen können. Er würde zerbrechen, verrückt werden...

Das Bild ihres Vaters machte Melissa hellwach und gab ihr schlagartig alle verlorengegangenen Lebenskräfte zurück, vertrieb die Resignation und machte sie ganz kalt mit einer kleinen Stahlkugel aus hochenergetischem Haß. Sie würde diesen Mann töten müssen, bevor er sie schwängern konnte. Jassif hatte ihre Resignation genau erkannt und eine beruhigte Befriedigung breitete sich in seinen Zügen aus. Sie mußte ihn einlullen, damit er den Rest seiner Wachsamkeit, seines Mißtrauens in die Ungeheuerlichkeit der Situation verlor. Sie versuchte ihre neu erwachte Entschlossenheit ganz tief in sich einzuschließen, damit sie sich nicht auf ihrem Gesicht spiegelte. „Ich kann das nicht, ich bin nicht die Richtige für diesen Weg. Ich werde dieses Kind töten, mich selber oder uns beide. Du wirst niemals der Vater meines Kindes werden!“ „Es gibt Kräfte, die stärker sind als unser Willen. Ich habe viele Jahre auf diesen Moment gewartet. Du wirst die Mutter meines Sohnes werden. Es gibt nichts mehr zu reden, Melissa!“ Er legte sich auf sie und drang ohne Eile und Hast in sie ein, ihr Zurückzucken verhinderte er durch den gnadenlosen Zugriff seiner Arme, die sie wie zwei Schraubstöcke ans Bett fesselte. Da sie bereits im Bad das Gel genommen hatte, gab es keinen Widerstand für ihn. Sie spürte sein Geschlecht in sie eindringen; er bewegte sich methodisch und ohne sichtbare Zeichen von Erregung. Sie hatte nicht mehr viel Zeit... Als er spürte, daß sie keinen Widerstand mehr leistete, löste er seinen festen Griff um ihre Schultern, stützte die Arme auf und sah ihr voll ins Gesicht. Sie erkannte, daß er sie nicht vergewaltigen wollte. Er wünschte sich ihr Einverständnis zu diesem Akt der vollständigen Entmündigung, den er als Vollzug seines Schicksals erlebte. Sie erkannte augenblicklich und intuitiv, daß hierin ihre Chance lag. „Jassif, laß mir einen Rest von Würde, wenn du mich schon deiner Gewalt unterwirfst. Laß mich auf dir sein, laß mir die Illusion der Freiheit!“ Sie sah sofort wieder das Mißtrauen in seinem Gesicht. Aber auch er kannte die uralte Symbolik der geschlechtlichen Vereinigung in ihrem Stamme, wonach Männer gezeugt werden, wenn die Frau auf dem Mann ist. „Es sei denn so!“ Er löste sich aus ihr und sie bemerkte an der Widerwilligkeit seines Körpers, wie kurz er bereits vor der Ejakulation gestanden hatte. Mit einer kurzen, ruckhaften Bewegung legte er sich auf den Rücken; richtete sich allerdings die Kissen in seinem Rücken zurecht, so daß sein Oberkörper halb aufrecht lag und hob sie entschlossen auf sich. Erneut drang er in sie ein, berührte bewundernd ihre vollen Brüste, bevor er wieder die Schraubstöcke seiner Hände um ihre Hüften legte. Voller Scham registrierte sie, daß ihre Brustwarzen voll erigiert waren, und daß auch er dies wahrnahm. Sie schob den irritierenden Gedanken beiseite, konzentrierte sich ganz auf das innere Bild ihres Vaters und die Kugel aus kaltem Haß in ihrem Bauch....