Engelchen Veronika



Aus dem Garten der Geister kam ich - ja - wir alle kommen daher, nur haben wir das meiste vergessen, als die Dämmerung kam. Es war kein besonderer Garten, doch sahen wir ihn mit anderen Augen. Wir alle haben ihn mit diesen Augen gesehen, als wir noch Kinder waren. Da waren Elfen und Baumgeister und alles war in Licht und Leben getaucht, das sich ständig bewegte. Ach ja - und da war der Kater Mutzeputz, der mir erlaubte das Landhaus des kleinen Käfers anzuschauen und Onkel Johannes, der an der silbernen Brücke sein Gartenhäuschen hatte. Ja ganz nah an der silbernen Brücke, über die wir alle mal gehen werden. Aber die Zeit ist noch nicht reif für mich, denn ich wohne im Hause der Schatten. Auch dort wohnen wir alle irgendwie und es gibt dort viele Stufen - Magister Mützchen hatte sie mir gezeigt, als ich größer wurde und das Haus der Schatten bewußter wurde. Meine Wanderung hätte begonnen meinte der Engel, der mich an meinem Bett besuchte, nachdem ich mit dem Luftgeist die silberne Brücke gesehen hatte. Der Garten der Geister war jetzt nicht mehr der, der er einmal war, aber immerhin konnte ich wenigstens noch Magister Mützchen sehen, was die Mama und Tante Mariechen nicht konnten. Sie waren schon zu erwachsen und die große Dämmerung war über sie gekommen, so wie sie über alle Menschen kommt und alles vergessen macht. Aber der Engel hatte gesagt, ich bräuchte keine Angst haben, ich sollte mich nur immer wieder an den Garten der Geister und die silberne Brücke erinnern, dann würde ich auch wieder dahin finden, nach der großen Dunkelheit, die durch Tränen gezeichnet ist. Es war Winter geworden...

Aber da ist ja noch Onkel Johannes, der auf mich aufpasst und auf den blöden Peter, meinen Spielgefährten. Wenigstens die beiden glaubten an Magister Mützchen, als ich davon erzählte. Der liebe, etwas schwerfällige Peter glaubte alles und das war gut so. Und Onkel Johannes war schon viele Male auf der Erde, deswegen hatte er sein Haus ja auch so nahe an die silberne Brücke gebaut. Deswegen konnte er auch die graue Frau sehen, deren Zimmer im Haus der Schatten ich zusammen mit Magister Mützchen besucht hatte und die Johannes bereits aus mehreren Leben kannte. Sie war wohl zwischen den Welten gefangen und traute sich nicht über die letzte Stufe. Viele Male redete Johannes mit ihr, doch sie hielt zu sehr an dem fest, was ihr verlorengegangen schien. Deswegen baute sie sich in ihrem Zimmer ein Bilderbuch auf, mit durchsichtigen Gestalten der Vergangenheit. Aber auch sie wird eines Tages über die Schwelle und die silberne Brücke gehen können, so wie auch Ulla Uhlberg, die Florenz nach Schloß Irreloh zu holen versucht und damit auch Geister der Vergangenheit heraufbeschwor. Auch Aaron Mendels, der seine Bürde für die kleine Rahel trug, Jahr für Jahr auf die Märkte des Lebens...so wie wir alle.

Unter der Last der Bürde, die wir für jemanden anderes in Liebe tragen, werden wir lernen mit den Augen der Tiefe zu sehen.

"Das Leben endet immer etwas und beginnt etwas anderes, und doch endet und beginnt es eigentlich nie, denn es ist zeitenlos und das, was wesentlich ist, wandert mit uns alle Tage und Stunden , die glücklichen und die traurigen. Und wenn wir ein Grab schließen, so bauen wir damit eine Brücke in jene Welt. Es werden von Jahr zu Jahr mehr Brücken, und zuletzt gehen wir selbst über unsere vielen in Tränen gebauten Brücken hinüber, um zu vergessen, daß wir einmal um sie geweint. Die Tränen sind ja der Preis für die geistigen Welten, alles Erkennen wandelt durch Leid zum Licht, und die eine große Antwort, auf die wir hoffen."




Text: Zusammenfassung und Ausschnitt aus "Die drei Lichter der kleinen Veronika" von Manfred Kyber/ Bilder: ?