Das Licht am
Ende des Ganges
Heinz Körner |
Eines Tages
hatte er beschlossen, die Gitterstäbe nie mehr loszulassen. Er konnte
sich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern. Ihm war jedoch bewußt, daß
die Entscheidung von Angst getrieben worden war. Angst vor dem Fallenlassen,
Angst vor der Dunkelheit unter ihm, vor dem Ungewissen. So klammerte er
sich krampfhaft an die Stäbe des vergitterten Fensters. Er wußte nicht
einmal mehr, weshalb er hier war. Aus dem Dunkel seiner Erinnerung leuchtete
hin und wieder ein kleiner Fetzen Licht. Eine Zelle war da gewesen, eine
Tür, dahinter ein dunkler Gang mit einem kleinen Licht am Ende. In sehr
seltenen Augenblicken glaubte er, diesen Gang schon ein paar mal betreten,
das Licht gesucht zu haben. Und dann war da ein unsagbarer Schmerz, der
sein Gedächtnis zu verriegeln schien. Zwei Wächter waren am Ende des Ganges
gewesen: ein Mann und eine Frau. Oft hatten sie ihn gehindert, den Gang
zu verlassen und an die Sonne zu treten. Aber sie hatten ihn auch behütet
und versorgt. Nie war deshalb sein Wunsch, sich den Weg in die Freiheit
zu erkämpfen, so stark gewachsen, daß er es auch nur einmal ernsthaft
versucht hätte. Aber diese Erinnerung war sehr tief in ihm versteckt,
zeigt sich nur manchmal in hellen Nächten, wenn er träumte. Und diese
Träume vergaß er immer schnell. Irgendwann hatte er etwas entdeckt: Wenn
er mit aller Kraft hochsprang zu dem Fenster an der Wand und die Gitterstäbe
zu fassen bekam, dann konnte er sich an guten Tagen daran hochziehen.
Manchmal gelang es ihm, seinen Kopf zwischen die Stäbe zu drängen und
einen Blick auf die Sonne zu erhaschen. Wie glücklich er gewesen war,
als er das zum ersten Mal schaffte! Seitdem hatte er sich oft an die Stäbe
gehängt, Kraft gesammelt und versucht, die Sonne zu sehen. Wenn er stark
genug gewesen war, hatte er es geschafft. Und seitdem hatte er im Grund
nur für diesen kurzen Augenblick gelebt, in welchem er eine Ahnung fühlte
von Sonne und Freiheit. Da es ihm an Essen und Trinken selten mangelte,
ihm sonst nichts zu fehlen schien, hatte er sich inzwischen mit diesem
Leben abgefunden. Dann eines Tages, hatte er gespürt, daß ihn die Kraft
verließ. Seine guten Tage waren seltener geworden; er hatte sich gefürchtet,
nie wieder einen Blick auf die Sonne werfen zu können. So hatte er sich
also entschieden, beim nächsten Mal die Gitterstäbe nicht mehr loszulassen.
Mit der Zeit hatte er vergessen, was vorher gewesen war, erinnerte sich
kaum an die Zelle, den Gang und die Wächter. Unbestimmte Ängste und Befürchtungen
hatten sich in ihm eingenistet. Und ab einem gewissen Zeitpunkt konnte
er sich, selbst wenn er gewollt hätte, nicht mehr fallen lassen. Zu groß
war die Angst vor dem Aufschlag und vor der Dunkelheit - zu groß die Angst,
mühsam vergessene Enttäuschungen wieder erleben zu müssen. Nun hing er
an den Stäben, festgeklammert, verkrampft und voller Furcht. An starken
Tagen gelang es ihm immer noch, sich hochzuziehen und sein Gesicht zwischen
die Stäbe zu pressen. Aber es wurde mit zunehmenden Alter seltener, erfüllte
ihn aber dennoch mit Freude und Wehmut. Irgendwann vergaß er die Wächter,
die Zelle, den Gang und das Licht an seinem Ende endgültig. Für ihn gab
es nur noch einen winzigen Lebensbereich: das Fenster, die Gitterstäbe
und die immer selteneren Blicke auf die Sonne. So starb der Mann, wie
er die letzten Jahre verbracht hatte: festgeklammert an dem, was er für
wichtig und lebenswert gehalten hatte. Als man ihn irgendwann einmal fand,
verstand niemand, was da geschehen war. Die Wächter waren längst verschwunden,
die Tür der Zelle offen, der Weg in die Freiheit nicht leichter, aber
durchaus zu bewältigen. Der Mann hätte nur loslassen brauchen, sich nur
fallenlassen. Vielleicht hätte er sich verletzt, vielleicht auch die Tür
erst nach langem Umhertasten in der Dunkelheit gefunden. Auch der dunkle
Weg durch den langen Gang hätte ihm sicher Abschürfungen beigebracht,
ihn manchmal geängstigt. Aber er hätte jederzeit die Zelle und den Gang
verlassen können; niemand hätte ihn daran gehindert. Weil er den Mut zu
einem Versuch nicht gefunden hatte, war es ihm niemals möglich gewesen,
sein Leben zu ändern. Er hätte nur hinausgehen brauchen, hinaus in die
Freiheit - und hätte in der Sonne Leben können.
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