Die Beerdigung

- Michael Peter -


Die Reden sind vorbei, die Tränen vergossen. Es muß nur noch der Sarg hinabgelassen werden in das finstere Loch, und schon wird das erste vergnügliche Lächeln die hastig errichtete Barriere aus Trauer und Anteilnahme überwinden. Anschließend können sie händeschüttelnd und über wichtige Dinge redend hinauseilen in die Welt, wo sie im Wissen um ihre Unvergänglichkeit nun ein freieres, ungegezwungeneres Dasein ohne Angst und Schrecken führen wollen. Mit jeder Schaufel Erde, die der bucklige Totengräber zu dem Kollegen, Freund, Vater, Bruder und lieben Gesellen hinunterwirft, wird ihnen leichter ums Herz werden. Und wenn zum Schluß der bucklige Gnim auf dem Grab seinen stampfenden Tanz aufführt, damit er so viel Erde wie möglich in das alte Loch pressen kann, dann werden sie endlich den Verstorbenen ein letztes Mal hochleben lassen und im weiteren lediglich an ihn denken, wenn die Zeche des Leichenschmauses aus seinem Nachlaß bezahlt wird. Nein, sie werden ihn nicht vermissen, den lieben Verblichenen, denn wen sie da beerdigen, ist kein Geringerer als der Tod. Sie überrumpelten ihn, nachdem eine alte Frau, die eitriges Blut spuckte und vor Schmerzen weinte, ihm ein letztes Mal abschütteln konnte, und sie ergriffen die Gelegenheit. Benommen und hilflos, wie er dalag, packten sie ihn in einen mit Samt ausgeschlagenen Sarg und trugen ihn zu dem seit langem ausgehobenen Grab. Und nun stehen sie hier in der Hoffnung, das Schreckgespenst aller Lebenden auf ewig unter einer lehmigen Schicht Vergessen verschwinden zu sehen. Alle haben sich eingefunden, selbst das Grauen. Doch steht es weitab vom Geschehen und sieht dem Hinabsenken des hölzernen Kastens mit gemischten Gefühlen zu, da es seine Popularität mit dem Ende des Todes schwinden sieht. Und dann passiert es! Der Sarg sinkt nicht mit dem gleichgültigen Stöhnen hinunter, mit dem sie gewohnt sind, ihre Lieben entschwinden zu sehen, nein, er ruckt ein-, zweimal boshaft und verharrt schließlich regungslos, obwohl er noch immer zur Hälfte aus dem Loch ragt. Einige hüsteln verlegen, andere schauen zum Himmel, als erwarten sie von dort Beistand. Die Schwermut, die das Amt des Pastors übernommen hat, flicht schnell ein Gebet ins Geschehen ein. Und die Angst, die in der Rolle des Ministranten glänzt, schwenkt das golden schimmernde Rauchfaß in der irren Absicht, den Weihrauch damit dicht über die peinliche Situation zu legen und für alle Zeit unsichtbar zu machen. Indessen verebbt das Hüsteln, die Blicke fallen vom Himmel, das Gebet nimmt sein Ende, der Rauch verzieht sich, ohne daß sich etwas geändert hätte. Und so müssen wohl oder übel alle der Tatsache ins Auge sehen: Die Öffnung ist zu klein für den Sarg. Einige Minuten stehen sie ratlos herum und betrachten die dicken Seile, mit denen sie den Tyrannen herablassen wollten und die nun aber daliegen wie frisch abgetrennte Nabelschnüre. Schließlich tritt der Schlaf vor, der schwergewichtige, teuer gekleidete Bruder des widerspenstigen Toten, und kratzt sich müde am Kinn. Nachdem auch das keinen Erfolg zeigt, tritt er mit seinen frischpolierten Lackschuhen gegen den verschnörkelten Rand des Sarges. Ein dumpfer Laut ertönt, die erwartete Bewegung nach unten bleibt dagegen aus. "Das sieht ihm ähnlich!" murmelt der Neid, und der Gleichmut überlegt ohne sonderliches Interesse, ob damit der Tod oder der Schlaf gemeint ist. Wieder tritt der grobschlächtige Schlaf gegen die letzte Ruhestätte seines Bruders, auf der sich nun zwei unschöne Kratzer abzeichnen. Allen zum Trotz gibt sich der schwarz spiegelnde Kasten weiterhin widerborstig. Der Kreis der Trauernden schließt sich jetzt enger um den Sarg. Spitze Stöckelschuhe drücken unter den wallenden, nachtfarbenen Röcken vorsichtig gegen den hölzernen Schoß. Da keine Hand daraus erwächst, die sie mit hinunterzerren will in das ewige Vergessen, geben sie sich mutiger und treten mit ihren Absätzen dagegen. Die Nervosität nutzt den Augenblick geschickt, um sich aufzuplustern und ihre Hände den vielen Umstehenden zu reichen. "Das hat doch alles keinen Sinn!" stöhnt der Unmut und zieht seinen Zwillingsbruder, den Mut, beiseite. "So ein Mist!" flucht der Ärger und spuckt auf den Boden. "Ich hätte es mir denken können." "Ihr Dilettanten!" biesterte die Wut. "Seid ihr denn nicht einmal dazu imstande, ein passenden Grab zu schaufeln?" "Am besten, wir nehmen ihn heraus und schmeißen ihn ohne Sarg in das Loch", philosophiert der Unsinn und erhält darauf eine schallende Ohrfeige von der Furcht, die nicht um alles in der Welt dazu bereit ist, den Unhold jemals wieder aus der Kiste herauszulassen. "Das ist unser Ende!" wispert die Vorahnung so unheilvoll, daß der Sadismus vor wollüstiger Vorfreude erschaudert, und in Erwartung verwegener Abscheulichkeiten stößt er seinem Vertrauten, dem Masochismus, den gestreckten Finger ins offene Auge, was dieser mit einer unübersehbaren Erektion beantwortet. Die Hysterie kreischt cholerisch, springt auf den Sarg und hüpft darauf herum. "Wir sollten ihm ein Opfer bringen, das wird ihn gnädig stimmen!" zischt die Niedertracht und hebt ihren krummen Finger dabei gegen die etwas abseits stehende Zusammengehörigkeit, die durch ein Nicken der stummen Zustimmung noch weiter fortgedrängt wird. "Es ist alles meine Schuld!" lamentiert das Selbstmitleid und beginnt hemmungslos zu schluchtzen. "Aber nicht doch ...", röchelt die ewig betrunkene Sucht beruhigend und reicht eine fast geleerte Flasche herum. Die Melancholie schwenkt ihr weißes Taschentuch, schließt die Augen und summt: "Ich hett' einen Kameraden ..." Die Sehnsucht wiegt sich mit Tränen in den Augen zu der Melodie. "Laß uns irgendwo hingehen", raunt die Unzucht lasziv und schmiegt sich an der Unschuld. Diese weicht verwirrt zurück vor der reibenden Berührung, die sie die Strapse unter dem hauchdünnen Kleid der Unzucht spüren läßt. Der Schwachsinn hält ein pausbäckiges Phlegma in den Armen, als wäre es ein zu Tode geliebter Säugling. Plötzlich hallt ein Schrei über den Friedhof, der die Trauer vor Bewunderung in ihrer Bewegung innehalten läßt und die Wehmut dazu verleitet, anerkennend aufzuhorchen. Alle schauen auf. Nur der Übermut schlägt unbeeindruckt Purzelbäume auf dem Sarg. Dort, an der schmiedeeisernen Friedhofspforte, steht das Leben, keuchend, erschöpft, zitternd, unendlich alt. "Was habt ihr getan?" flüstert es. Alle schauen betreten zu Boden. Das Leben tritt näher. Sie geben ihm eine Gasse frei, die es hin zum Grab führt. Das Leben schüttelt ungläubig den Kopf. "Das ist doch nicht möglich. Wie konntet ihr nur ...?" Es fällt neben dem Sarg auf die Knie und rüttelt an dem schwarzlackierten Ebenholz, bis sich der Deckel quietschend öffnet. Der Tod kommt zum Vorschein. Er öffnet die Augen und blickt verstört um sich. "Was ist geschehen?" Seine Stimme klingt nicht so moderig und eisig wie sonst. Das Leben wischt ihm einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Es ist nichts. Es war nur ein böser Traum." Behutsam küßt es seine kalten, trockenen Lippen. "Komm, laß uns gehen! Es gibt viel zu tun."

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