Gleis 17
Stefan Schikorski

Ein kleiner, idyllischer S-Bahnhof, gebaut etwa um 1900 im hübschen Landhausstil, umgeben von hochherrschaftlichen Villen aus der Kaiserzeit. Mit gepflegten Vorgärten und gemütlichen Restaurants. Am Anfang des Grunewald, bietet der kleine Bahnhof, immer liebevoll restauriert, mit Blümchen geschmückt, ein recht friedliches Bild. Wie ein Spielzeugbahnhof aus einem Kinderbaukasten. Ja - hier lässt sich´s gut wohnen. Die Wohlhabenden wissen dies zu schätzen. In der Unterführung des S-Bahnhofes "GRUNEWALD" zwischen den breiten Steintreppen, welche zu den Bahnsteigen des S-Bahn führen, fällt plötzlich ein weisses Schild auf.
GLEIS 17
Die alten, vermoderten Steintreppen führen zu einem längst stillgelegten Bahnsteig. Eigentlich zunächst nichts Besonderes, gibt es doch viele solcher Bahnhöfe, die eben, -wie bei Dornröschen - zuwachsen, wenn sie nutzlos geworden sind. Hier aber, auf dem Bahnsteig GLEIS 17, sind zu meinen Füßen Eisentafeln in den Bahnsteig eingelassen. Eine Tafel neben der anderen, die ganze Bahnsteigkante entlang, auf beiden Seiten, und auch auf dem Nebengleis. Auf der Tafel steht: 144 Juden nach Theresienstadt oder: 128 Juden nach Treblinka oder: 134 Juden nach Auschwitz Immer mit Datum bis 1945. Hunderte dieser Tafeln bedecken den ganzen Bahnsteig. Mich schaudert´s, als ich mir vorstellte, wie diese Menschen abtransportiert wurden. Eine ungeheure Traurigkeit befällt mich, wenn ich im Geiste diese Bilder sehe. Das waren doch alles ganz einfache Menschen, genau solche, wie ich selbst. Das waren doch Berliner, so wie ich. Nichts an ihnen war besonders. Sie alle waren so, wie ich auch. Da waren Kinder, die vielleicht noch von ihren Müttern etwas getröstet wurden, damit sie nicht quängeln. Alte Männer, Kranke, alte Frauen, mühsam halten sie ihre letzten Habseligkeiten in Pappkarton´s fest.

WARUM? WARUM? WARUM? WARUM?

Warum hat man so etwas meinen Nachbarn, meinen Mitbürgern, meinen Freunden und Geschwistern angetan???

Ich sehe, wie sie in Waggons gepfercht werden, sehe bewaffnete Soldaten, die diese Menschen in die Güterzüge hineintreiben. Und ich weiß heute, dass diese vielen einfachen und ganz normalen Menschen, ohne den allermindesten Grund, völlig sinnlos und entsetzlich grausam, einige Tage später in einer Gaskammer ersticken mussten. Ich sehe die verrosteten Schienen und mir ist so, als ob jeder Stein, der zwischen den alten Gleisen liegt - weint. Sehe die Tränen in der Birke, die hier wild wächst und auch meine Tränen fließen auf diese Eisentafeln. Ich bin sicher, meine Freunde, auch niemand von Euch, wenn er an diesem Ort steht, kann sich der Trauer entziehen. Darum schäme ich mich meiner Tränen nicht. Eine Rose lege ich auf die Gleise - und manchmal träume ich, dass plötzlich an dieser Stelle ein riesengroßes Rosenbeet heranwächst, und dass die rostigen Schienen ganz zuwachsen, - von Rosen.

zurück